Servotechnik positioniert Radioteleskop in der Atacama-Wüste
11.12.2015 -
In rund 5.000 Metern Höhe, in der Atacama-Wüste in Südamerika, steht Alma, das aktuell größte bodengebundene Radioteleskop der Welt. Servoregler bringen dabei einen Teil der Parabolantennen in Position – damit weder Unschärfe noch Spiralnebel den Blick ins All trüben.
Alma ist die Abkürzung für Atacama Large Millimeter Array. Dahinter verbergen sich 66 Präzisionsantennen, die zu einem Teleskopverbund zusammengeschlossen sind. Alle 66 Antennen sind mobil und können umgesetzt werden, um die Array-Konfiguration zu verändern. Auf diese Weise erhalten Wissenschaftler ein leistungsstarkes Zoom-Objektiv, dessen Brennweite von der Anordnung der Einzelantennen zueinander bestimmt wird. Die Abstände liegen zwischen 150 Metern und 16 Kilometern.
Jede Antennenschüssel sammelt Strahlung aus dem Weltall und fokussiert sie auf einen Empfänger. Die Signale der einzelnen Antennen werden zusammengeführt und in einem speziellen Supercomputer, dem sogenannten Alma-Korrelator, für die Weiterverarbeitung aufbereitet. Die großen Entfernungen, die die Wissenschaftler bei der Beobachtung des Kosmos überwinden, machen deutlich, warum ein hochgenaues Antriebssystem für die Antennen benötigt wird: Jede einzelne Antenne muss exakt in Position gebracht werden können und während einer laufenden Observation im Verbund synchron nachgeführt werden. Kleinste Ungenauigkeiten verursachen bereits Unschärfen.
Exakte Reflektor-Position einstellen und halten
Bei der Auslegung der Antriebstechnik stand das Projektteam vor der Herausforderung, trotz der großen mechanischen Ausmaße sowie Umweltbedingungen wie Sand, Kälte und Windlasten die Präzision bei der Positionierung zu erreichen. „Wir bewegen uns technisch in einem speziellen Bereich. Vom Anspruch her liegt er in der oberen Ecke“, berichtet Klaus Willmeroth, Leiter des Bereichs Servoantriebs- und Steuerungstechnik bei Vertex Antennentechnik. Vertex hat 25 der 66 Antennen konzipiert und technisch ausgerüstet. Der Auftrag für das Gesamtprojekt ist auf Nordamerika, Europa und Ost-Asien aufgeteilt. „Wir bedienen mit unserer deutschen Technik gemeinsam mit Lenze den amerikanischen Teil des Auftrags“, erklärt Willmeroth, denn Vertex gehört zu einem US-Konzern.
Was Willmeroth mit „in der oberen Ecke“ meint, macht eine Zahl deutlich: Der Reflektor mit 12 Meter Durchmesser muss an seinem äußeren Rand auf circa 0,03 Millimeter genau positioniert werden – Verformungen durch Wind und Temperatur bereits eingeschlossen. Eine Position einmal einzustellen ist eine Sache, sie zu halten, eine andere. Denn Alma wird bei seinen Beobachtungen aufgrund der Erddrehung ständig nachgeführt. Dabei darf die Reflektor-Position nur um 0,01 Millimeter von der Sollbahn abweichen. Dafür sind die Antennen mit sechs Servoantriebsachsen von Lenze ausgestattet: Zwei bilden den sogenannten Azimuthantrieb für die Drehbewegung, vier Achsen übernehmen die Elevation – also das vertikale Verfahren der Parabolspiegel. Als Servoregler sind für beide Aufgaben Geräte der Reihe 9400 von Lenze in der HighLine-Ausführung mit CAN-Kommunikation zum zentralen Vertex-Antennenrechner im Einsatz.
Eine weitere Herausforderung bei der Antriebsauslegung ist neben der Positioniergenauigkeit die Höhe, in der die Radioteleskope stehen. Weil die Luft auf 5.000 Metern deutlich dünner ist als in den Produktionsanlagen mit nahe Normalnull, hat dies Auswirkungen auf die Spannungsfestigkeit. Es besteht ein höheres Risiko von Spannungsüberschlägen. Zudem sorgt die Höhe nicht nur bei Bergsteigern dafür, dass ihnen die Puste ausgeht. „Die Verlustwärme wird in der Atacamawüste schlechter abgeführt als in tiefer liegenden Regionen“, erklärt Willmeroth.
In Unterdruckkammer der TU München geprüft
Angesichts dieser nicht alltäglichen Bedingungen war Vertex bereits in der frühen Projektphase auf der Suche nach einem Antriebstechnikhersteller, der bereit war, sich diesen Anforderungen zu stellen. Lenze simulierte beispielsweise die Höhe von 5.000 Metern in der Unterdruckkammer der TU München, um die Verfügbarkeit der Technik in einem Betriebstemperaturbereich von -20 bis +50 °C belastbar zu verifizieren. Ferner haben Applikationsingenieure das Projekt über Jahre fachlich intensiv begleitet.
Welche Dimension das Projekt Alma annimmt, belegt der im Vergleich zum Maschinenbau enorme Zeitraum von den anfänglichen Skizzen bis zur Eröffnung: Alma wurde in den 90er Jahren geplant. Erste Gespräche zwischen Vertex und Lenze gab es 1999 – zu einem Zeitpunkt, als es die 9400er-Serie noch gar nicht gab. In den Jahren 2001 bis 2003 wurde dann von Vertex in den USA ein Prototyp gebaut, seinerzeit noch mit Lenze-Reglern der Baureihe 9300. 2006 wurde entschieden, für die Produktionsphase die damals noch brandneuen L-Force-Geräte der Reihe 9400 in der Ausbaustufe HighLine einzusetzen. Denn Alma ist mit einer Laufzeit von 30 Jahren angelegt, dabei muss sichergestellt sein, dass auch in zehn Jahren noch gleiche oder zumindest kompatible Geräte lieferbar sind. Weitere Vorteile des Umstiegs auf die neue Baureihe waren die besseren Konfigurierbarkeit sowie eine einfachere Wartung.
Spektakuläre Bilder
Wie gut die von Vertex und Lenze konzipierte Lösung arbeitet, zeigt Alma mit spektakulären Aufnahmen. Beim noch jungen Stern HL Tauri – etwa 450 Lichtjahre von der Erde entfernt – übertrifft das Bild viele Erwartungen: Es zeigt unerwartet feine Details in der Materiescheibe, die von der Geburt des Sterns zurückgelassen wurde. Sichtbar sind eine Reihe konzentrischer heller Ringe, getrennt von dunklen Lücken. „Die neuen Ergebnisse sind ein großer Schritt nach vorne in der Beobachtung der Entwicklung protoplanetarer Scheiben und der Entstehung von Planeten“, informiert die ESO. Das European Southern Observatory – auch Südsternwarte genannt – gehört zu den wissenschaftlichen Treibern, die Alma geplant haben und betreiben.
Vorrangige Aufgabe des Observatoriums Chajnantor auf der gleichnamigen Anden-Hochebene ist es, Bilder von der Geburt neuer Sterne, junger Galaxien im frühen Universum sowie von der Entwicklung neuer Planeten im Umkreis ferner Sterne zu liefern. Alma wurde darüber hinaus gebaut, damit die Wissenschaftler die Verteilung und das generelle Vorkommen lebensnotwendiger Moleküle im interstellaren Raum analysieren zu können – und auch neue Verbindungen zu entdecken. Alma beobachtet den Kosmos dafür in einem für das menschliche Auge unsichtbaren Wellenspektrum.
Fazit
Das derzeit größte Radioteleskop in den nordchilenischen Anden beweist seine Leistungsfähigkeit mit hochauflösenden Bildern aus den Tiefen der Galaxis. Die Ausbeute zeigt, was mit aktuell verfügbarer Technik möglich ist, wenn verschiedene Akteure in einem Projekt eng und über Kontinente hinweg zusammenarbeiten. Im Maschinenbau entwickeln sich immer mehr enge Engineering-Partnerschaften – eine Kultur, die in der Wissenschaft schon seit Jahrzehnten gepflegt wird und interdisziplinäre Forschung heißt. Übrigens: Aktuell sind die ersten Prototypen-Antennen des Square Kilometre Array (SKA) in Südafrika im Bau – ebenfalls mit Lenze-Antriebstechnik im Inneren der Anlagen von Vertex.