„Bestehende Lösungen hinterfragen und verbessern“
30.10.2024
- Im Gespräch: Lars Butenschön, Geschäftsbereichsleiter Iglidur Gleitlagertechnik bei Igus
Hochleistungspolymere sind weit mehr als Kunststoffe, die sich durch eine außergewöhnliche Festigkeit, Haltbarkeit und Widerstandsfähigkeit gegen Verschleiß und Beschädigung auszeichnen. Wie viel mehr zeigt das Interview mit Lars Butenschön. Zudem sprechen wir darüber, dass die Begriffe Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft durchaus mit Kunststoffen in einem Satz genannt werden können.
Igus ist Hersteller von Hochleistungspolymeren für Bewegung. Seit 1964 entwickelt und produziert das Unternehmen sogenannte Motion Plastics, Produkte aus schmierfreien Kunststoffen. Was aber genau sind Hochleistungspolymere?
Lars Butenschön: Unter Hochleistungspolymeren verstehen wir solche Polymere, die einerseits bereits über sehr gute mechanische, thermische oder chemische Eigenschaften verfügen und sich somit von „Massen-Kunststoffen“ wie zum Beispiel für Plastiktüten abheben. Darüber hinaus erweitern wir diese Eigenschaften um solche, die sie für den Einsatz als verschleißfeste Bauteile optimieren. So entwickeln wir sogenannte Kunststoffcompounds und fertigen daraus besonders langlebige Energieketten für den Schutz von Leitungen oder Gleitlager, Linearführungen, Kugellager und viele andere Bauteile, mit denen sich Bewegung realisieren lässt.
Igus macht aus Kunststoffen oder eben Hochleistungspolymeren immer ein wenig mehr – Fahrräder, Drehkranzlager aus einer Holz-Kunststoff-Mischung, Low-Cost-Cobots namens ReBeL. An welchen neuen und außergewöhnlichen Produkten arbeitet Ihre F&E-Abteilung aktuell?
Lars Butenschön: Im Moment arbeiten wir mit Hochdruck an neuen Produkten für die Herbstmessen. Hierzu zählen einerseits neue Produkte für die Antriebs- und Lineartechnik und neue spannende Energieführungskonzepte, aber vor allem auch das Thema neue Werkstoffe. Mit den sogenannten Ewigkeitschemikalien – PFAS – beschäftigen wir uns und unsere Kunden sehr intensiv. Um hier auch in den aktuell noch sehr ungewissen Zeiten Lösungen anbieten zu können, entwickeln wir gerade mit großem Aufwand PTFE-freie Alternativen unserer meistverkauften PTFE-haltigen Gleitlagerwerkstoffe.
Klingt spannende, doch wie entstehen die Ideen für solche Produkte und wo finden Sie passende Partner?
Lars Butenschön: Den Großteil unserer Ideen und neuen Produkte entwickeln wir direkt mit unseren Kunden in partnerschaftlicher Zusammenarbeit. Nicht selten entstehen aus diesen Projekten auch neue Ideen für ganze Produktlinien. Neben dem direkten Input durch unsere Kunden verwenden wir natürlich auch viele Kreativmethoden in Workshops und Design-Sprints, um schnell möglichst systematisch Eindrücke von vielen Spezialisten im ganzen Unternehmen zu sammeln und in erste Gehversuche mit neuen Konzepten umsetzen zu können. So entstanden zum Beispiel viele unserer Online-Tools wie der neue Gleitlager-Hybridshop.
Welches war denn für Sie das bislang außergewöhnlichste Produkt?
Lars Butenschön: Bezogen auf ganz Igus? Sicherlich das Igus:Bike, jetzt RCYL benannt. Ein Fahrrad, das komplett aus Kunststoff gefertigt wird, ist ein mutiger Schritt. Im Gleitlagerbereich erstaunte mich vor allem, wie weit wir die bisherigen Grenzen der Spritzgusstechnologie im Bereich der Hochlastlager ausreizen und verschieben konnten. Die neuen Iglidur-Q3E-Mehrkomponentenlager, die wir mittels 2K-Spritzguss in einem Arbeitsgang und damit extrem kostengünstig herstellen können, reichen hinsichtlich ihrer Belastbarkeit absolut an deutlich teurere und aufwändiger herzustellende fasergewickelte oder gar aus Metall gefertigte Buchsen heran. Für Anwendungen in extrem rauen Bedingungen wie Baumaschinen ergeben sich hier für uns ganz neue Marktpotenziale.
Bei all den Entwicklungen legt Igus großen Wert auf Nachhaltigkeit. Wie ordnen Sie Kunststoffe in der Industrie hinsichtlich den Aspekten Haltbarkeit und ökologischer Fußabdruck ein – auch im Vergleich zu anderen Materialien?
Lars Butenschön: Ein dauerhaftes wirtschaftliches Wachstum kann uns als Gesellschaft nur gelingen, wenn wir die begrenzten Ressourcen, so effizient wie möglich nutzen. Dazu müssen wir neue Technologien entwickeln und alle uns bereits zur Verfügung stehenden nutzen, um bestehende Lösungen zu hinterfragen und zu verbessern. Das zeigen zwei Beispiele meiner Meinung nach anschaulich. Auf der einen Seite ist es an uns, die verarbeiteten Kunststoffe möglichst effizient zu verwenden. Das bedeutet beispielsweise Angussteile wieder in den Produktionskreislauf zurückzuführen oder aber auch Produkte am Ende ihrer Lebensdauer wieder einzusammeln und zu neuen zu verarbeiten. So holen wir das Maximum aus Kunststoff als Ressource heraus. Gleichzeitig erfassen wir den Ressourcen- und Energieaufwand, der zur Herstellung der Produkte nötig ist und berechnen so für jedes Bauteil das dabei entstandene CO2-Äquivalent. Das ermöglicht auch unseren Kunden den CO2-Fußabdruck ihrer Endprodukte zu berechnen und zu verbessern. Auf der anderen Seite helfen wir, Kundenanwendungen effizienter zu gestalten. Durch unsere schmierfreien Gleitlager können Lagerstellen wie die Zylinderanbindungen an Baggern oder landwirtschaftlichen Geräten komplett schmier- und wartungsfrei betrieben werden. Ein permanentes Versorgen der Lagerstelle mit Schmierfett entfällt. Das spart enorme Mengen an fossilen Ressourcen ein und sorgt für einen effizienteren Betrieb der Geräte.
Welche Herausforderungen gibt es aufgrund der Zusammensetzung von Kunststoffen beim Recyceln? Und wie wirkt sich die Wiederverwertung des recycelten Materials auf den neuen Werkstoff respektive das neue Produkt aus?
Lars Butenschön: Je komplexer das Material, desto schwieriger ist das Recycling. Deshalb ist es wichtig, bereits bei der Materialentwicklung und auch im Produktdesign den Recyclingprozess mit zu berücksichtigen. Wir schließen Materialkreisläufe überall da, wo wir können. Mit dem Chainge-Programm haben wir beispielsweise ein Recyclingprogramm aufgebaut, mit dem wir ausgediente Energieketten wieder zurücknehmen. Diese werden bei uns vor Ort gesäubert, sortenrein sortiert und geschreddert. Das Granulat nutzen wir zur Herstellung neuer Energieketten wie zum Beispiel der Cradle-Chain, die aus 100 Prozent Rezyklat besteht. Wir führen bei all unseren recycelten Serien genau die gleichen Qualitätsprüfungen durch, wie wir es auch bei neuen Produkten tun. Diese Tests zeigen, dass Produkte aus Recyclingmaterial dem Original auf Augenhöhe begegnen können.
Wo sehen Sie noch Potenzial hinsichtlich der Weiterentwicklung von Kunststoffen respektive Hochleistungspolymeren?
Lars Butenschön: Gerade im Hinblick auf die angesprochenen PFAS gibt es hier gerade viel Bewegung am Markt und es werden neue Stoffe und Technologien entwickelt werden, um mit weniger Fluorpolymeren auszukommen. Hieraus ergeben sich neue Herausforderungen aber auch neue Potenziale. Erfreulicherweise müssen immer mehr Produkte von Anfang an auf ihre „End of Life“ hin entwickelt werden. Recyclebare oder biologisch abbaubare Kunststoffe spielen daher eine immer größere Rolle, selbst für Kleinstkomponenten wie Gleitlager. Gleichzeitig schreiten Miniaturisierung respektive Downsizing und damit die Komplexität von Lagerstellen weiter voran und stellen uns vor immer höhere Anforderungen bei mechanischer- und thermischer Belastbarkeit, weshalb wir permanent weiter an neuen Compounds arbeiten, die diese Ansprüche erfüllen können.
Ihr Portfolio umfasst aktuell Produkte für 53 Branchen – von A wie Aerospace bis W wie Wohnmobile. Welche weiteren Branchen möchte Igus mittelfristig für sich gewinnen?
Lars Butenschön: Im Gleitlagerbereich sehen wir vor allem im Baumaschinenmarkt noch die größten Potenziale. Hier stoßen wir auch noch am ehesten auf gewisse Ressentiments gegenüber Kunststoff, was verständlich ist, da konventionelle Lösungen hier seit vielen Jahrzehnten mit als notwendige Übel akzeptierten Kompromissen hinsichtlich Konstruktion und Wartung eingesetzt werden. Mit unseren neuen fasergewickelten Gleitlagern und der erwähnten 2K-Spritzgussvariante können wir hier aber in vielen Bereichen punkten und Lösungen für die drängenden Herausforderungen wie die immer weiter steigenden Bedarfe nach mehr Produktivität und Automatisierung aber auch den ökologischen Aspekten wie CO2- und Schmierfetteinsparungen bieten. Eine ähnliche Entwicklung beobachten wir aktuell auch im Bereich der Hafenkrane und Offshore-Technik.
Wenn Sie könnten: Welches Produkt würden Sie gerne aus Kunststoff fertigen und warum?
Lars Butenschön: Ich denke, dass es heute schon fast zu viele Produkte gibt, die „nur weil es geht“ aus Kunststoff gefertigt werden. Die Verwendung von Kunststoffen sollte immer nur eine Verbesserung oder Lösung von echten Problemen darstellen. Und hier ist bereits extrem viel möglich: von Zahnrädern über Gleit- und Kugellager, Beschichtungen bis hin zu kompletten Fahrrädern. Ohne an dieser Stelle in Gesellschaftskritik abzuschweifen: Oft genug scheitert es meiner Meinung nach einfach am Faktor Mensch als Grund dafür, weshalb objektiv sinnvollere Technologien nicht verwendet werden. Für die meisten konstruktiven oder werkstoffspezifischen Probleme lässt sich in der Regel eine Lösung finden. Aber wenn Sie mich darauf festnageln wollen: Auch mit den schweren Akkus müssen E-Autos meiner Meinung nach nicht so schwer sein, wie sie heute sind. Es gibt bereits Serienfahrzeuge, deren Chassis aus Kohlefaser bestehen. Auch wenn das ganze Fahrzeug sicher nie aus Kunststoff bestehen wird: Es gibt auch sicher noch viele Komponenten im Fahrzeuginnenraum oder am Chassis, die durch Kunststoffteile ersetzt werden können, um Gewicht und Energieaufwand bei der Herstellung weiter zu reduzieren. (agry)