Automatisierung

„Die Energiewende zu meistern, ist die größte und wichtigste Aufgabe der Menschheit“

Im Gespräch: Frank Stührenberg, CEO von Phoenix Contact

08.11.2023 - Welche Rolle Phoenix Contact sowie jeder einzelne von uns auf dem Weg hin zu einer All Electric Society spielt, wo auf dem Weg dorthin Handlungsbedarf besteht und warum Deutschland mehr Selbstbewusstsein in Sachen Digitalisierung braucht, ­darüber ­sprechen wir mit dem Geschäftsführer von Phoenix Contact Frank Stührenberg.

Phoenix Contact, gegründet 1923, feiert dieses Jahr sein 100-jähriges Bestehen. Mit Blick auf die zahlreichen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, die in den vergangenen Jahrzehnten bewältigt werden mussten – bei welchem Wert auf einer Skala von 1 bis 10 stufen Sie die Energiewende ein?

Frank Stührenberg: Ganz klar bei 10! Die Energiewende zu meistern, ist die größte und wichtigste Aufgabe der Menschheit. Wie bringt es Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Joachim Schellnhuber, emeritierter Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung auf den Punkt: „Der Unterschied zwischen 2 °C und 4 °C ist die menschliche Zivilisation. So einfach ist das.“

Seit dem 1. September 2023 kann sich jeder in Ihrem All Electric Society Park in Blomberg anschauen, wie wir mit regenerativer Energie eine nachhaltige Zukunft erreichen ­können. Obwohl die Investitionssumme für das Vorhaben enorm war, haben Sie ­zugestimmt. Warum?

Frank Stührenberg: Für diese Investition funktioniert keine klassische Return on Invest (ROI)-Rechnung. Trotzdem haben wir das mit Zustimmung des Beirats sowie der Gesellschafterinnen und Gesellschafter entschieden. Neben den vielfältigen technischen Beispielen im All Electric Society Park, die demonstrieren, wie die Energiewende umgesetzt werden kann, möchte Phoenix Contact insbesondere aufzeigen, dass die Energiewende als Zielbild der All Electric Society eine lebenswerte Welt darstellt, die nicht auf Verzicht basiert. Vielmehr ist nachhaltiger Wohlstand für alle möglich. Neben der regenerativen Energiegewinnung, -verteilung, -speicherung und ihrem Verbrauch kommt im Park auch die Landschaftsgärtnerei nicht zu kurz, wobei die Pflanzen automatisch bedarfsgerecht bewässert werden, um Ressourcen zu sparen. Unsere Besucherinnen und Besucher jeden Alters sollen sich wohlfühlen. Es soll Spaß machen, Lösungen für eine nachhaltige, CO2-freie Welt von morgen zu besichtigen.

Wo sehen Sie die Rolle von Phoenix Contact hin zu einer All Electric Society, das heißt einer Welt, in der regenerativ erzeugte elektrische Energie als primäre Energieform weltweit in ausreichendem Maße und vollständig wirtschaftlich zur Verfügung steht?

Frank Stührenberg: Phoenix Contact hat sich schon seit seiner Gründung 1923 – damals mit den ersten Reihenklemmen und Fahrleitungsklemmen für die elektrischen Straßenbahnen – mit der Elektrifizierung der Welt beschäftigt. Später kamen viele Produkte und Lösungen zur Vernetzung und Automatisierung hinzu. Damit haben wir ein umfangreiches Portfolio inklusive der benötigten Technologien aufgebaut, um Lösungen im Sinne der All Electric Society zu realisieren. Das ist der größte Hebel, den Phoenix Contact in Bezug auf Nachhaltigkeit hat. Mit dem Leitbild Empowering the All Electric Society wollen wir ausdrücken, dass wir gerne und bewusst Wegbereiter sind, Partner und Kunden auf dem Weg mitnehmen und zum Mitmachen anregen wollen, damit wir gemeinsam nachhaltige Lösungen für eine lebenswerte, nachhaltige Welt erzeugen.

Woher stammt der Begriff All Electric Society  (AES)?

Frank Stührenberg: Um es gleich vorwegzunehmen: Der Begriff der All Electric Society wurde originär nicht von Phoenix Contact erfunden. Wir haben ihn seit Anfang 2019 als Überschrift über ein ganzheitliches und umfassendes technisches und wissenschaftliches Konzept zur klimaneutralen Transformation unserer Energiesysteme ausgeprägt und zum Leitbild unserer strategischen Unternehmensausrichtung entwickelt. Damit hat Phoenix Contact das heutige Verständnis der All Electric Society als Zukunftsbild eines alle Sektoren unserer Gesellschaft und Wirtschaft umfassenden klimaneutralen und nachhaltigen Energiesystems mitgeprägt – und das sicher frühzeitig und maßgeblich in einer Vorreiterrolle. Wie man dem entsprechenden Artikel in Wikipedia entnehmen kann, wurde der Begriff wohl bereits in den 1970er Jahren in den USA verwendet: nach unserem Verständnis aber eher als Beschreibung der damaligen umfassenden Elektrifizierung und ihrer Möglichkeiten, denn als Erläuterung der Transformation unserer Energiesysteme hin zu regenerativer Elektrizität. Erst in den vergangenen Jahren beobachten wir im Kontext der Überlegungen zur globalen Energiewende eine breitere Verwendung des Begriffs in diese Richtung, die auch über reine Fachtexte hinausgeht. Eine aus unserer Sicht sehr relevante Quelle, in der unter dem Begriff der All Electric Society die zumindest teilweise Transformation der Energiesysteme weg von fossilen Energieträgern und hin zu regenerativer Elektrizität verstanden wird, ist die 2016 von BDEW, GIZ und PwC herausgegebene Delphi Energy Future 2040-Studie. In dieser Studie stimmen unter anderem 75 Prozent der befragten 350 Experten der folgenden These zu: „Im Jahr 2040 ist die All Electric Society Realität geworden. Strom vor allem aus erneuerbaren Quellen sorgt auch für Mobilität und Wärme und hat Erdöl und Erdgas in vielen industriellen Prozessen ersetzt.“

Wo stehen wir aktuell auf dem Weg hin zu einer AES und wo besteht dringend Handlungsbedarf, um diese zu erreichen?

Frank Stührenberg: Eine Vielzahl von technischen Lösungen, aber auch notwendige Technologien stehen heute schon zur Verfügung, um Lösungen im Sinne einer All Electric Society zu realisieren. Hier müssen wir nicht auf zukünftige Entwicklungen warten. Dringenden Handlungsbedarf sehe ich einerseits in den staatlichen Regulierungen, die es allen einfacher machen müssen, beispielsweise Solar- und Windparks zu errichten. Andererseits gilt es Vorbehalte zum Beispiel in der Industrie abzubauen und Unsicherheiten entgegenzuwirken. Die deutschen und europäischen Technologieunternehmen verfügen über die notwendigen Stärken, stehen sich allerdings manchmal selbst im Weg. Man muss nicht immer alles neu entwickeln, sondern sollte vorhandene Lösungen optimieren, etwa in puncto Energieeffizienz, Sicherheit und Datenschutz.

Sie sagen, die Voraussetzung für die globale Energiewende sei die Sektorenkopplung. Sie vernetzt die Bereiche Industrie, Energie, Infrastruktur und Mobilität elektrisch und datentechnisch zu einem Gesamtsystem. Klingt einfach, woran hängt es?

Frank Stührenberg: Die Sektorenkopplung ist dafür da, energieverbrauchende und -erzeugende Sektoren intelligent miteinander zu verbinden. Das Ziel ist ein höchsteffizienter Energietransfer, -verbrauch und -speicherung. Das erreichen wir nur, wenn Systemgrenzen zwischen den Sektoren – zum Beispiel dem Gebäudesektor und der industriellen Produktion – überwunden werden. Es geht um ein möglichst holistisches Bild über alle Sektoren. Hier sind offene und standardisierte Lösungen gefragt, unterschiedliche Systeme müssen übergreifend und problemlos miteinander kommunizieren können. Zudem gilt es Vorbehalte abzubauen, etwa dass die All Electric Society nur funktionieren kann, wenn die Welt genügend elektrifiziert ist. Nehmen wir den Mobilitätssektor: Ausreichende Ladeinfrastruktur erzeugt höhere Akzeptanz und Nachfrage nach vollelektrischen Fahrzeugen. Es ist heute schon technisch möglich, dass die bidirektionale Nutzung von Autobatterien in der Sektorenkopplung einen wichtigen Beitrag leistet, wenn die hohen Fahrzeugbatterie-Kapazitäten zwischenzeitlich ausbalancierend auf die Energienetze einwirken könnten. Leider gibt es dazu noch keine gesetzliche Regelung, weil eine Autobatterie in der deutschen Rechtsprechung eben nicht gleichzeitig Verbraucher und Versorger sein kann.

Prof. Tobias Teich von der Westsächsischen Hochschule Zwickau sagte in einer  Diskussionsrunde zum Thema Digitalisierung, Deutschland habe eine enorme Innovationskraft, hänge aber hinsichtlich der Digitalisierung hinterher. Wo sehen Sie Deutschland hinsichtlich Digitalisierung?

Frank Stührenberg: Deutschland braucht diesbezüglich mehr Selbstbewusstsein. Es mag sein, dass wir in manchen Disziplinen anderen Ländern hinterherlaufen, aber wir sollten uns auf die Fähigkeiten deutscher und europäischer Technologieunternehmen besinnen und uns weniger mit Hyper-Skalern aus dem europäischen Ausland vergleichen. Phoenix Contact ist beispielsweise Spezialist in der OT-Welt: Wir wissen zum Beispiel genau, wie man mit kritischer Infrastruktur umgehen muss, wie sie geschützt und in IT-Welten eingebunden werden kann. Bereits 2008 haben wir mit Innominate Security Technologies einen Spezialisten auf diesem Gebiet akquiriert. Es lohnt sich, eigene Kompetenzen rund um OT-Security zu entwickeln und auszubauen, zumal sich dabei Know-how und Lösungen ergeben, die auch für Kunden interessant sind. Für uns gilt das im Besonderen, da wir unser Wissen rund um die Cyber Security zusätzlich mit unserer Expertise im Bereich der funktionalen Sicherheit kombinieren können – Stichwort: neue Maschinenverordnung. Genau darum geht es uns bei Phoenix Contact: Dieser Zugewinn an Know-how macht nicht nur unser eigenes Produktionsfeld sicherer, unser Portfolio an OT-Security-Lösungen soll ebenfalls davon profitieren.

Die Sektorenkopplung setzt die ­Digitalisierung voraus. Heißt das: Keine ­Digitalisierung, keine Energiewende?

Frank Stührenberg: Ja, so ist es. Ohne das Vorliegen und Auswerten aller relevanten Daten aus den einzelnen Sektoren können Prozesse nicht energiedienlich gesteuert und optimiert werden. Aber wie schon oben beschrieben, sind wir aus meiner Sicht auf einem guten Weg. Es müssen weiter Anreize geschaffen werden, dass Unternehmen und auch der Staat die Digitalisierung weiter vorantreiben und ausbauen.

Inwieweit ist die Industrie bereit, sich für eine Zusammenarbeit mit anderen  Industrieunternehmen respektive dem Wettbewerb zu öffnen?

Frank Stührenberg: Natürlich kann Phoenix Contact eine nachhaltigere Welt nicht allein maßgeblich gestalten, das wäre anmaßend. Ob der Staat, die Gesellschaft, Organisationen oder Unternehmen: Jeder muss seinen Beitrag leisten, damit wichtige Veränderungen in dieser Welt möglich werden. In dieser Hinsicht hat Phoenix Contact erkannt, dass wir uns öffnen und kooperieren müssen. Dies tun wir bereits seit langem, etwa durch die Gründung des Interbus Clubs, die Mitarbeit in der Profibus Nutzerorganisation, ODVA, 5G-Acia, Plattform Industrie 4.0, Industrial Twin Association und SPE Alliance, um nur einige zu nennen. Zudem sind mit dem PLCnext Store und dem Protiq Marketplace offene Plattformen geschaffen worden, auf denen auch andere Unternehmen ihre Produkte vertreiben können – oftmals im Wettbewerb mit Phoenix Contact. Wir bauen weiterhin Netzwerke auf oder beteiligen uns an diesen. Als jüngstes Beispiel sei die All Electric Society Alliance der Westsächsischen Hochschule Zwickau genannt, deren Gründungsmitglied wir sind. Der Klimawandel lässt sich zudem nur mit den großen Playern dieser Welt beherrschen. Ohne China, Indien und den globalen Süden werden wir die gesteckten Ziele nicht erreichen. Und das geht nur durch Zusammenarbeit und die Identifikation gemeinsamer Ziele.

E-Autos, PV-Anlagen, Ökostrom – alles hat seinen Preis. Heißt das im Umkehrschluss, Nachhaltigkeit muss man sich leisten können?

Frank Stührenberg: Wir müssen Lösungen finden, damit Energie für alle Menschen weltweit verfügbar und bezahlbar ist. Beispielsweise erzeugen Solarfelder in Dubai schon heute regenerative Energie für 2 bis 3 Cent/kWh. Das sind unschlagbar günstige Energiepreise, die noch weiter sinken können. Genau dieses Szenario steckt im Zielbild der All Electric Society: bezahlbare und verfügbare regenerativ erzeugte elektrische Energie für alle. Natürlich müssen diese Preise hier in Deutschland ankommen. Vor allem muss die Elektrifizierung sämtlicher Lebensbereiche weiter vorangetrieben werden. Phoenix Contact wird mit seinen Lösungen einen Beitrag dazu leisten. (agry)

Kontakt

Phoenix Contact GmbH & Co.KG

Flachsmarktstr. 8
32825 Blomberg
Nordrhein-Westfalen, Deutschland

+49 5235 341 713
+49 5235 341 825

Spannende Artikel zu Fokus-Themen finden Sie in unseren E-Specials. Lesen Sie jetzt die bisher erschienenen Ausgaben.

Zu den E-Specials

Media Kit

Die Mediadaten 2025 sind jetzt verfügbar! Laden Sie sie hier herunter.

Industrie-Lexikon

Begriffe aus der Bildverarbeitung und Automation, die man kennen sollte

Zum Lexikon

Spannende Artikel zu Fokus-Themen finden Sie in unseren E-Specials. Lesen Sie jetzt die bisher erschienenen Ausgaben.

Zu den E-Specials

Media Kit

Die Mediadaten 2025 sind jetzt verfügbar! Laden Sie sie hier herunter.

Industrie-Lexikon

Begriffe aus der Bildverarbeitung und Automation, die man kennen sollte

Zum Lexikon