Abgetaucht in die Tiefen des Meeres
Steuerungstechnik im Einsatz unter extremen Bedingungen
Kurz vor dem Kontakt mit dem Meeresboden fahren vier Stützen mit großen Tellerfüßen seitlich aus dem Maschinenrahmen, passen sich an die Bodengegebenheiten an und sorgen dafür, dass das rund zehn Tonnen schwere Erkundungsgerät beim endgültigen Kontakt sicher aufrecht stehen bleibt. Dann beginnt die integrierte Bohreinheit mit der Erforschung der Sediments- und Gesteinsschichten. Das Erkundungsgerät MeBo 200 untersucht den Meeresboden, knapp 3.000 Meter unter der Wasseroberfläche. Es wurde von Marum, dem Zentrum für Marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen, und Bauer Maschinen gemeinsam entwickelt. MeBo 200 kann in Wassertiefen von bis zu 2.500 Metern bis zu 200 Meter tief in den Meeresboden bohren. Die dabei gewonnenen Bohrkerne liefern Einblicke in den Sedimentaufbau und die Geologie des Meeresbodens.
Das MeBo 200 hat die Größe eines 20-Fuß-Containers. Ein Forschungsschiff transportiert es zum Untersuchungsgebiet auf dem Ozean. An der richtigen Stelle angekommen, wird das Erkundungsgerät mit Hilfe eines 2.700 Meter langen stahlgepanzerten Kabels auf den Meeresgrund hinabgelassen. Über das Kabel bleibt das MeBo 200 mit dem Schiff verbunden und wird von dort aus mit Energie versorgt und gesteuert.
Die ersten beiden Versionen des MeBo waren jahrelang erfolgreich im Forschungseinsatz. Für den weltweiten Vertrieb wollte Bauer das Erkundungsgerät jedoch weiter verbessern und mit folgenden Elementen ausstatten:
- aktuelle und moderne Steuerungstechnik,
- erweitertes Kommunikationsnetzwerk,
- Schnittstellen für externe Automatisierungskomponenten,
- weiterentwickeltes Diagnose- und Wartungssystem.
Als Partner für die Überarbeitung der Automatisierungsarchitektur setzt Bauer auf B&R. „Wir arbeiten schon sehr lange erfolgreich mit B&R zusammen und verwenden unter anderem seit Jahrzehnten B&R-Technik in unseren Tiefbohranlagen“, so Lothar Schirmel, Gruppenleiter Elektronik, Automation & Controls bei Bauer Maschinen.
Für Extrembedingungen gemacht
Um am Meeresboden zuverlässig Daten sammeln und an das Begleitschiff senden zu können, benötigt das MeBo 200 widerstandsfähige Technik. „2.500 Meter unter dem Meeresspiegel herrschen extreme Bedingungen“, so Schirmel. „Dementsprechend robust und zuverlässig müssen alle eingesetzten Komponenten sein. Deshalb haben wir uns für das Steuerungssystem X90 mobile von B&R entschieden, das diesen extremen Bedingungen problemlos standhält.“
Die X90-Steuerungen lassen sich mit Optionsmodulen an viele unterschiedliche Anforderungen anpassen. Für das MeBo 200 wurden sie als intelligente Powerlink-Buscontroller mit zahlreichen integrierten I/Os konfiguriert. Über Wave-Division-Multiplexing-Medienkonverter wird das Powerlink-Protokoll auf Single-Mode-Fiber übertragen und schiffseitig wieder zurückgewandelt. „Ein zuverlässig funktionierendes Echtzeit-Netzwerk unter diesen extremen Bedingungen zu betreiben, ist eine große Herausforderung. Gemeinsam mit B&R haben wir diese Herausforderung jedoch gelöst. Die Experten von B&R haben uns fundiert und tatkräftig bei der Auswahl der Konverter unterstützt und durch Anpassungen an den Netzwerkeinstellungen anfängliche Kommunikationsunterbrechungen in den Griff bekommen. So stelle ich mir die Zusammenarbeit mit einem Automatisierungspartner vor“, erklärt Schirmel.
Softwareupdates vom Deck aus
Die integrierten Ethernet-Schnittstellen der X90-Steuerungen sind über Glasfaserkabel vom Schiffsdeck aus zugänglich. „Dies ist für uns wichtig, weil wir so bei Bedarf Softwareupdates auf die Geräte aufspielen können, ohne das Erkundungsgerät auftauchen lassen oder den Druckbehälter mit den Steuerungen öffnen zu müssen“, betont Schirmel. Die erforderlichen elektrischen Signale werden über Steckkontakte vom Druckbehälterinneren nach außen geführt. Die Steckkontakte halten einem Wasserdruck von bis zu 400 bar stand. Auf diese Weise sind unter anderem fast 100 Proportionalventile, Absolutwertgeber und Wegmesssensoren an die integrierten I/Os der X90-Geräte angeschlossen. Gesteuert wird die Bohreinheit von einem Container aus, der sich auf dem Forschungsschiff befindet. Im Zentrum des komplett neu aufgesetzten Bedienkonzepts steht ein mit Joysticks und Steuerelementen ausgestatteter Sitz, wie er auch in Baggern und Kränen als Fahrersessel Verwendung findet. Flankiert wird die Joystick-Bedienung von einer Bildschirmbedienung via Touchscreen. Dafür setzt Bauer drei 19-Zoll-Displays aus der Automation-Panel-Familie 5000 von B&R ein.
Die X90-mobile-Steuerungen sind in versiegelten Druckbehältern untergebracht, die die Elektronik vor dem Meerwasser schützen. Die Panels zeigen neben weiteren Steuerelementen alle wichtigen Informationen für die Steuerung der Bohranlage des MeBo 200 und der erforderlichen Zusatzaggregate an. Zwei weitere Monitore liefern Bilder von acht Unterwasserkameras, mit deren Hilfe die Bediener den weitgehend manuell geführten Bohrvorgang zusätzlich visuell überwachen. Als zentrale Anlaufstelle für alle Daten dient das B&R-Prozessleitsystem Aprol, welches auf zwei redundanten Automation PC 910 ausgeführt wird. Als ausgelagerte Visualisierungsserver setzt Bauer drei Industrie-PCs der Serie Automation PC 3100 ein.
Der Bohrvorgang wird über Joystick, Control Panel und Bildschirmbedienung in einem Container vom Schiffsdeck ausgesteuert. Ein Live-Video-Stream von acht Unterwasserkameras ermöglicht die visuelle Überwachung des Bohrprozesses. „Wir setzen Aprol bereits seit 2005 in unseren Öl- und Gas-Tiefbohranlagen als Visualisierungslösung sowie zur Datenerfassung und -verwaltung ein“, erläutert Schirmel. „Zentral für uns ist dabei die performante Datenspeicherung und die Langzeitarchivierung, die Aprol bietet. Dies gilt auch für den sogenannten Trend Viewer, mit dem wir die aufgezeichneten Daten visualisieren und Fehlerursachen analysieren können.“
Schrittweise Inbetriebnahme
Als eigentliche Maschinensteuerung kommt eine SPS aus dem X20-System von B&R zum Einsatz. Die Trennung von Steuerung und Visualisierung ermöglicht unter anderem, dass die Bohranlage samt Hilfsaggregaten auch ohne Aprol-Server schrittweise in Betrieb genommen, getestet oder weiter betrieben werden kann. Über die X20-Steuerung hat Bauer zudem diverse Hilfsaggregate in das Gesamtsystem eingebunden. Dazu gehören ein Hydraulikaggregat, eine Funkfernbedienung für den Deckbetrieb des MeBo 200 und die Energiezentrale mit Transformatoren für die Hochspannungs-Versorgung des Bohrgeräts.
3rd-Party-Komponenten anbinden
„Die Hilfsaggregate sind zum Teil Zukaufteile“, sagt Schirmel. „Bei denen haben wir keinen Einfluss darauf, welchen Feldbus sie einsetzen. Aus diesem Grund schätzen wir sehr, dass B&R Schnittstellen und Bibliotheken für alle gängigen Feldbusse anbietet.“ So konnten Schirmel und sein Team problemlos den Receiver der Fernsteuerung, die Joysticks und das zugehörige Control Panel anbinden. Fünf Industrie-PCs von B&R garantieren, dass Visualisierung und Datenspeicherung stets zuverlässig funktionieren.
„Diese Flexibilität und Durchgängigkeit der B&R-Welt ermöglicht es uns, alle erforderlichen Daten lückenlos zu erfassen und an das Visualisierungs- und Datenverwaltungssystem übergeben zu können, ohne dafür Schnittstellen selbst definieren oder implementieren zu müssen“, fasst Schirmel zusammen. „Deshalb und wegen der Offenheit und der Größe des Produktportfolios setzen wir insbesondere bei der Automatisierung von Sonder- und Großprojekten auf B&R als Automatisierungspartner – auch in unserem neuen Offshore-Geschäftsbereich.“
Auto: Franz Rossmann, Technikjournalist, Gauting bei München