Automobilhersteller setzen bei Abgasturbolader auf Drehmomentsensoren mit Magnetostriktion
IHI Charging Systems: Hochgenaue Messung mithilfe von modifizierten Turboladern möglich
Bei der Motorenentwicklung beurteilen Automobilhersteller zunächst virtuell, welche Abgasturbolader beziehungsweise welche Verdichter- und Turbinenstufen sich für ihr Projekt eignen. Verwendet wird hier ein Simulationsmodell des Verbrennungsmotors, das wiederum ein Modell des Turboladers beinhaltet. Dieses bildet das Verhalten und die Leistungsumsetzung der einzelnen Komponenten ab. Um speziell das Turbinenkennfeld hochgenau zu bestimmen, setzte IHI Charging Systems International (ICSI) Drehmomentsensoren ein, die auf Basis von Magnetostriktion arbeiten [1], [2].
Üblicherweise werden Turbolader mit Hilfe etablierter Standardverfahren vermessen. Aus den Messdaten werden mittels Gleichungen, welche die Thermodynamik der Turbomaschinen beschreiben, die Kennfelddaten errechnet. Dazu wird der Turbolader an einem Heißgasprüfstand betrieben und Größen wie Drücke, Temperaturen, Massenströme sowie die Rotordrehzahl erfasst. Die Turbinenstufe des Abgasturboladers kann dabei stationär nur in einem relativ schmalen Bereich betrieben werden; daher müssen die Kennfelder anschließend aufbereitet beziehungsweise extrapoliert werden, um für die Simulationen eine ausreichend breite Datenbasis zu bieten.
Wie genau solche Extrapolationsverfahren sind und wie exakt die erweiterten Kennfelddaten die Aerodynamik der Turbinenstufe beschreiben, untersuchte ICSI speziell für die Anwendung in Verbrennungsmotoren von PKWs. „Wir wollten wissen, wie nahe unsere Simulationsergebnisse an der Realität sind", so Bernhardt Lüddecke, Gruppenleiter Versuch bei dem Heidelberger Turbolader-Spezialisten und Projektleiter des Forschungsprojekts. „Standardmäßig sind in den Turbinenkennfeldern parasitäre Einflüsse enthalten, die beispielsweise durch interne Wärmströme sowie Lagerreibverluste entstehen. Wir erhalten also verfälschte Rohdaten, die wir korrigieren müssen, da sonst auch bei physikalisch korrekten Extrapolationsverfahren Fehler entstehen." Diese Kennfeldaufbereitung kann grundsätzlich mit Hilfe von Korrekturmodellen vorgenommen werden. Um solche Modelle entwickeln zu können, muss jedoch zunächst das wahre physikalische Verhalten bekannt sein - und genau dafür war es erforderlich, die Turbinenbetriebspunkte hochgenau zu vermessen.
Drehmomentmessung für exakte Leistungsbilanz
Das Turbinenrad eines Turboladers extrahiert über seine aerodynamische Formgebung aus der Energie in den Abgasen Leistung, wandelt sie in mechanische Leistung um und überträgt diese über die rotierende Turboladerwelle auf das Verdichterrad. Im Verdichter wird diese mechanische Leistung der Ansaugluft zugeführt, um die Frischluft für den Verbrennungsmotor auf einem erhöhten Druckniveau zur Verfügung stellen zu können. Allerdings ist die auf der Turbinenseite erhaltene (reale) Leistung geringer als jene, die theoretisch (ideal) zur Verfügung steht. Das Verhältnis von realer zu idealer Leistung ist der Wirkungsgrad der Turbinenstufe - genau diesen wollte ICSI möglichst exakt bestimmen.
Die Herausforderung: Während die ideale Leistung relativ einfach bestimmt werden kann, ist es aufgrund von Wärmeverlusten an die Umgebung sowie der stark verdrallten Abströmung der Turbinenstufe mit den üblichen Messverfahren kaum möglich, die tatsächlich extrahierte Leistung exakt zu ermitteln. Deshalb wird in der Regel vom Zustand der Verdichterstufe auf die von der Turbine umgesetzte Leistung geschlossen, man verwendet also die gemessenen Temperaturen und den Massenstrom der Verdichterstufe für die Bilanzierung. Dadurch entstehen jedoch parasitäre Effekte, welche die Messung beeinflussen: Zwischen Turbinen- und Verdichterstufe befindet sich das Lagersystem mit zwei Radiallagern und einem Axiallager. Auf dem Weg vom Turbinenrad zum Verdichterrad geht an diesen Lagerstellen ein Teil der Wellenleistung verloren, was berücksichtigt werden muss. Zudem existieren Wärmeflüsse in die Verdichterstufe, welche die Temperaturmessung am Verdichterstufenaustritt und damit wiederum auch das Messresultat der Turbinenstufe beeinflussen [3].
Es existieren also verschiedene Effekte, die insbesondere bei kleinen Turboladern eine Leistungsbilanzierung erschweren. Um diese zu umgehen und somit eine solide Grundlage für zukünftige Modellierungs- und Korrekturansätze zu erhalten, entschied sich ICSI dafür, direkt an der Welle das Drehmoment zu messen und so die real vom Rotor umgesetzte Leistung zu bestimmen. „Damit sind wir für die Bilanzierung der Turbinenstufe völlig losgelöst von der Verdichterseite, sie dient lediglich noch als ‚Bremse‘ für die Turbinenstufe", erklärt Bernhardt Lüddecke. „Zudem haben wir das Drehmoment so nahe am Turbinenrad gemessen, dass wir den Einfluss von zwei der drei Lagerkomponenten ausschließen konnten - vor allem den des Axiallagers mit seiner stark betriebspunkt-abhängigen Reibleistung, die neben der Rotordrehzahl auch von der Axialkraft abhängt, die der Rotor auf das Axiallager ausübt. Die Reibleistung des verbliebenen turbinenseitigen Radiallagers lässt sich im Vergleich dazu relativ einfach über physikalische Modelle abbilden."
Das gesamte Messsystem wurde in einen Turbolader integriert. Dabei sollten zum einen Drehmomente im Bereich von zehntel Newtonmetern, zum anderen aber auch kleine Drehmomente bis in die Größenordnung von Milli- erfasst werden können. Gleichzeitig musste die Sensorik so ausgelegt, positioniert und gekühlt sein, dass Turbinen-Eintrittstemperaturen von bis zu 1.050 °C sowie hohe Drehzahlen von bis zu 180.000 Umdrehungen pro Minute möglich waren. Auf Dehnmessstreifen basierende Verfahren erschienen in der erforderlichen Baugröße nicht geeignet. Eine Alternative fand ICSI in den Drehmomentsensoren von NCTE.
Magnetisieren statt verkleben
NCTE setzt für seine Sensorik eine besondere Technologie ein: Magnetostriktion. Bei diesem Verfahren wird die Welle durch Strompulse dauerhaft magnetisiert und dadurch selbst Teil des Sensors. Unter der Wellenoberfläche entsteht ein langzeitstabiles, schwaches Magnetfeld, das sich verändert, sobald das Drehmoment zu- oder abnimmt. Hochauflösende Magnetfeldspulen detektieren diese Veränderung berührungslos in einem Abstand von bis zu drei Millimetern. Die Spulen werden in einen Spulenhalter vergossen, sodass ihre Position zur Welle stets konstant bleibt. Bei externen magnetischen Störfeldern dient ein Gehäuse als zusätzliche Abschirmung. Eine Auswerteelektronik erfasst die Veränderungen des Magnetfelds innerhalb von Mikrosekunden und wandelt sie in nutzbare elektrische Signale um.
Der Vorteil der Technologie: Es werden keine zusätzlichen Komponenten verklebt, Struktur und Oberfläche des Messobjekts bleiben erhalten. Zudem sind keine Schleifkontakte vorhanden, auch die störanfällige Übertragung der Signale via Telemetrie entfällt und die Baugröße spielt keine Rolle. Zudem ist der Sensor unempfindlich gegenüber Umwelteinflüssen, er ist langlebiger als Systeme mit Dehnmessstreifen und liefert auch unter schwierigen Bedingungen exakte Daten.
Messung direkt in der Welle
Die für die Messaufgabe vorbereiteten Turboladerwellen wurden bei NCTE entmagnetisiert, magnetisch kodiert und homogenisiert. Anschließend wurde der gesamte Turbolader in Heidelberg zusammengebaut und bei NCTE kalibriert. Mit dem modifizierten Turbolader war schließlich die hochgenaue Messung des Drehmoments direkt in der Welle möglich.
Nach einer ausführlichen Erprobung und Validierung unter stationären Bedingungen am Heißgasprüfstand erfolgten Untersuchungen unter pulsierender Beaufschlagung: An einem Motorprüfstand des Forschungsinstitutes für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren Stuttgart (FKFS) wurde am modifizierten Turbolader das Verhalten der Turbine im gefeuerten Betrieb gemessen. „Das war die Königsdisziplin: Hier haben wir untersucht, ob sich die Turbine unter motorischen Randbedingungen quasi-stationär oder echt instationär verhält", so Bernhardt Lüddecke. Dies ist eine wichtige Fragestellung, da Kennfeldextrapolationen auf Basis von stationär gemessenen Daten erfolgen - und die Ergebnisse nur dann gültig sind, wenn sich die Turbine auch unter pulsierenden Abgas-Druck-Schwankungen quasi-stationär verhält.
„Auch am Motorprüfstand gibt es natürlich verschiedene Störeinflüsse, die berücksichtigt und gegebenenfalls korrigiert werden müssen. Wir haben aber deutliche Hinweise darauf, dass sich eine Turboladerturbine - wie bisher stillschweigend unterstellt - unter pulsierender Beaufschlagung quasi-stationär verhält", fasst Bernhardt Lüddecke zusammen. „Dies ist eine wichtige Erkenntnis", bestätigt Dietmar Filsinger, Entwicklungsleiter bei ICSI und Supervisor des Projekts. „In der Modellierung des Abgasturboladers im Rahmen komplexer Motorenentwicklungsprojekte hilft diese, den stetig steigenden Genauigkeitsanforderungen an die Simulation gerecht werden zu können."
Literatur:
[1] Lüddecke, B.; Filsinger, D.; Ehrhard, J.; Steinacher, B.; Seene, C.; Bargende, M. (2013), „Contactless Shaft Torque Detection For Wide Range Performance Measurement of Exhaust Gas Turbocharger Turbines", J. Turbomach. 136(6), 061022 (Dec 10, 2013), Paper No: TURBO-13-1162; doi: 10.1115/1.4025824
[2] Lüddecke, B.; Filsinger, D.; Bargende, M. (2014), „Engine Crank Angle Resolved Turbocharger Turbine Performance Measurements by Contactless Shaft Torque Detection", Proceedings of 11th International Conference on Turbochargers and Turbocharging of the IMechE, Woodhead Publishing, ISBN 978-0-081000-33-5
[3] Lüddecke, B.; Filsinger, D.; Bargende, M. (2012), „On wide mapping of a mixed flow turbine with regard to compressor heat flows during turbocharger testing", Proceedings of 10th International Conference on Turbochargers and Turbocharging of the IMechE, Woodhead Publishing, ISBN 978-0-85709-209-0
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