Automatisierung

„Big Data“ im Griff

Strukturierte Methodik zur Auswertung der Prozessfähigkeit

25.11.2014 -

Gerade bei hochkomplexen in­dustriellen Fertigungsprozessen mit hohem Durchsatz, wie beispielsweise im Fahrzeug-Karosseriebau, spielt neben der hohen Bauqualität auch der reibungslose Produktionsfluss eine sehr wichtige Rolle. Hier wird häufig In-Line-Messtechnik eingesetzt. Leistungsfähige Analyse-Werkzeuge liefern dabei den Qualitätsverantwortlichen wertvolle Aussagen zur aktuellen Prozessfähigkeit der einzelnen Bereiche und tragen damit zur Stabilität der Produktion bei.


Eine der Hauptaufgaben der In-Line-Messtechnik in der Produktion ist die zuverlässige Bereitstellung von 100%-Daten in Echtzeit, die als Grundlage für die Statistische Prozesssteuerung (SPC) dienen. Die statistische Kenngröße der „Prozessfähigkeit", ausgedrückt durch den Cp-Wert, ist dabei für die Qualitätsverantwortlichen von besonderem Interesse. Sie ist ein Maß der Stabilität eines Fertigungsprozesses und liefert sowohl bei der Einregelung neuer Prozesse als auch bei der gezielten, proaktiven Optimierung laufender Prozesse Aufschluss darüber, an welcher Stelle Eingriffe einen maximalen Nutzwert erzielen und ob durchgeführte Maßnahmen nachhaltig zu einer Verbesserung der Prozessstabilität geführt haben.
Nachfolgend wird eine durchgängige, in einem integrierten Software-Tool des Messtechnik-Herstellers Perceptron umgesetzte Methodik der Prozessfähigkeitsauswertung vorgestellt: Sie beruht auf der engen Zusammenarbeit des Münchner Unternehmens mit der Qualitätssicherung eines großen norddeutschen Automobilherstellers, greift aber auch die Anforderungen anderer Werke auf.


Prozessstabilisierung in der Anlaufphase eines neuen Modells
In der Anlaufphase eines neuen Fahrzeugmodells wird zur Einregelung der beteiligten Fertigungsprozesse in der Regel zunächst die Prozessstreuung optimiert und im zweiten Schritt der stabile Prozess auf den Sollwert verschoben. Angesichts der Gegebenheiten zu diesem Zeitpunkt, d.h. unterschiedliche Bauteilstände, unterschiedliche Lieferanten für bestimmte Komponenten, unterschiedliche Chargen mit vom Sollwert abweichende Abmessungen, ist es wichtig, losgelöst vom Sollwert der Konstruktionsvorgabe die erreichte Stabilität der Prozesse darstellen zu können. Verschiedene Fahrzeughersteller verfolgen in dieser Phase unterschiedliche Strategien, allen gemeinsam ist jedoch die Notwendigkeit, die Produktionsstabilität und die Lieferqualität einzelner Chargen gezielt bewerten zu können.
Abbildung 1 zeigt beispielshaft drei unterschiedliche Ansätze zur Handhabung der Grenzwerte in der Anlaufphase eines neuen Modells in einem Automobilwerk. Werden im oberen Prozess bereits die für die laufende Produktion definierten Grenzwerte angewendet, liegt er komplett außerhalb der Toleranz und sogar zu einem großen Anteil außerhalb der Ausschussgrenze. Es kommt laufend zu Grenzwertalarmen, obwohl der Prozess an sich schon stabil ist. Im unteren Prozess hingegen liegt zwar ein Großteil der Werte bereits innerhalb der Toleranzgrenzen gemäß der Konstruktionsvorgabe, der Prozess ist jedoch instabil und streut erheblich.
In manchen Werken wird deshalb das komplette Toleranzband während der Anlaufphase vorübergehend um den aktuell erreichten Mittelwert zentriert und ggf. die Toleranzgrenze aufgeweitet, damit nur extreme Ausreißer einen Alarm auslösen. Ein anderer Weg besteht darin, lediglich die Ausschussgrenzen zu verschieben, bis der Prozess seine endgültige Lage erreicht hat. Je nachdem, welche Methodik verfolgt wird, ergeben sich unterschiedliche Situationen für die Prozessqualifizierung an der Linie. So kann ein an sich stabiler Prozess vermeintlich schlechtere Ergebnisse liefern als ein instabiler Prozess, während letzterer als hauptsächlich in Ordnung angezeigt wird.
In keiner dieser Situationen ist jedoch eindeutig ersichtlich, ob die Prozesse a) bereits stabil laufen, sich aber entfernt vom Sollwert bewegen, oder ob b) eine unzureichende Stabilität der Prozesse für die Grenzüberschreitungen verantwortlich ist. In beiden Fällen haben die Inline-Experten also Mühe, gegenüber dem Management die bereits erzielten Fortschritte bei der Prozessstabilisierung nachzuweisen und konkrete Ansatzpunkte für die weitere Optimierungsarbeit abzuleiten. Um hier unter Ausnutzung der umfangreichen Möglichkeiten der In-Line-Messtechnik eine praxisorientierte Hilfestellung zu bieten, wurde die SPC-Software der Messanlagen um die strukturierte Prozessfähigkeitsauswertung erweitert.


Strukturierte Prozessfähigkeitsauswertung
Ausgehend von der Zusammenfassung des Prozessfähigkeitsstatus über einen bestimmten Zeitraum und in einem bestimmten Produktionsbereich erlaubt der strukturierte Aufbau des entwickelten Software-Tools eine einfache Analyse der Daten bis ins Detail. So erhalten auch die In-Line-Experten im Werk die nötige Arbeitsgrundlage, um ohne großen Analyseaufwand innerhalb der Datenflut Problembereiche zu identifizieren und schnell zu den konkreten Ursachen vorzudringen. Dies ist insbesondere dann von Bedeutung, wenn ein Großteil der produktionskritischen Bauteilmerkmale bereits „im grünen Bereich" liegt: Chargen, die eine deutlich schlechtere Qualität aufweisen und in ihren Maßen mehr streuen, werden in dieser Darstellung zu erhöhten Anteilen der kritischen Prozesskenngrößen führen und sind somit leicht zu erkennen. So kann zuverlässig zwischen instabilen Prozessen und einer Lageabweichung vom Sollwert unterschieden werden.
Gleichzeitig dient die Zusammenstellung der Prozessfähigkeitskennzahlen den Anwendern dazu, den Verlauf und die kontinuierliche Verbesserung der Indizes nachzuweisen: Ist die geforderte Stabilität erreicht, kann in der Einstellphase dazu übergegangen werden, den Prozess auf den Sollwert zu verschieben.


Kontinuierliche Überwachung der laufenden Produktion
Über die gesamte Laufzeit eines Fahrzeugmodells ist es hilfreich, die Prozesssicherheit und -stabilität in den mit In-Line-Messtechnik überwachten Bereichen regelmäßig überprüfen und vergleichen zu können. Auch hier sind die beiden Hauptaufgaben der Prozessfähigkeitsberichte klar zu erkennen: Für die Berichterstattung an das Management ist es wichtig darzustellen, dass sich die Prozessfähigkeit und somit die Qualität der Fertigung auf einem konstant hohen Niveau befindet oder sich sogar innerhalb eines bestimmten Zeitraums kontinuierlich verbessert hat. Als Werkzeug für das Inline-Team und als Schnittstelle zur Qualitätssicherung kommen hingegen wieder der strukturierte Aufbau und die einfache Navigation in spezielle Problembereiche zum Tragen: Bei einer Verschlechterung der Kenngrößen liefert diese Methodik die Datengrundlage für ein gezieltes Nachregeln in der laufenden Produktion. Die statistische Prozessfähigkeitsauswertung ermöglicht zudem eine proaktive Prozessoptimierung zur Vermeidung von Ausschuss und Nacharbeit, da sie nicht erst dann greift, wenn ein Grenzwert-Alarm ausgelöst wurde.


Proaktive Prozessoptimierung
Ein Beispiel aus der Produktion des an der Entwicklung beteiligten Automobilwerks verdeutlicht die Vorgehensweise: Hier wird die Prozessfähigkeit und insbesondere ihre Entwicklung über einen bestimmten Zeitraum regelmäßig überwacht. Als Ausgangspunkt kann dabei das gesamte Werk, eine nach werksspezifischen Kriterien ausgewählte Gruppe von Messzellen oder - wie im Beispiel gezeigt - eine einzelne Messzelle dienen. Je nach Häufigkeit der Überwachung oder der Berichtsausgabe können Schichten, Tage oder sogar Monate zusammengefasst werden.
Abbildung 2 zeigt den tageweisen Verlauf der Prozessfähigkeit zwischen dem 11.02. und dem 25.02.2014. Die Farbe Rot steht für unzureichende Cp-Werte kleiner 1, Gelb für kritische Cp-Werte zwischen 1 und 1,33 und Grün für akzeptable Cp-Werte größer 1,33. Der letzte Balken rechts in der Abbildung weist eine deutliche Verschiebung hin zu einem höheren Rot-Gelb-Anteil auf, die Prozessfähigkeit hat sich also am 25.02.2014 verschlechtert. Jetzt ist es für das In-Line-Team wichtig, aus der großen Menge der In-Line-Messdaten möglichst schnell die relevanten Daten herauszufiltern, die an diesem Tag in die Auswertung der Prozessfähigkeit eingeflossen sind.
Diese Aufgabe übernimmt die Software: Die nächste Analyse-Ebene liefert ein Pareto-Diagramm, das - wiederum farbkodiert - die Cp-Werte für die beteiligten Messpunkte und Funktionsmaße an diesem konkreten Tag aufschlüsselt (Abb. 3).
Nun können einzelne Berichtsmerkmale für Detail-Analysen herausgegriffen werden. Eine Gegenüberstellung je eines willkürlich ausgewählten Messpunkts aus den drei Cp-Wert-Kategorien (Abb. 4) verdeutlicht, wie diese Prozessfähigkeitswerte zustande kommen.
Der Trendverlauf ganz links in Abbildung 4 gehört zu einem grünen Balken mit hohem Cp-Wert: Der fähige Prozess liegt stabil nahe dem Sollwert und nutzt nur einen kleinen Teil des Toleranzbands.
Ganz anders das einem roten Balken zugeordnete Trenddiagramm in der Mitte: Bei einem so niedrigen Cp-Wert ist es neben einer hohen Streuung - wie auch in diesem Fall - meist bereits zu mehrfachen Überschreitungen von Ausschuss- bzw. Toleranzgrenzen gekommen, sodass die Anlagenführer die betroffenen Punkte dank der Grenzwertalarme bereits im Visier haben. Das Hauptaugenmerk des für die Prozessstabilität zuständigen In-Line-Teams gilt daher den roten Balken für Punkte, die bisher noch keinen Alarm ausgelöst haben, und vor allem den gelben Balken.
Das Trenddiagramm ganz rechts zeigt den Messdatenverlauf für einen dieser gelben Balken: Obwohl der Prozess an dieser Stelle ganz erheblich streut und das Toleranzband fast vollständig ausfüllt, ist hier noch kein Anlagen-Stopp aufgetreten.
Für den Anlagenführer liegt demnach kein augenfälliges Problem vor, die geforderte Bauqualität wird weiterhin geliefert. Aufgrund der geringen Prozessstabilität ist die Wahrscheinlichkeit jedoch sehr hoch, dass genau in diesem Bereich in Kürze ein Prozessproblem auftreten wird. Genau diese Bereiche sind für die Qualitätssicherungsexperten der Fertigung im Volkswagen-Werk in Emden von speziellem Interesse, wie Günther Fisser betont: „Die Prozessfähigkeitsberichte zeigen uns, wo proaktives, gezieltes Gegensteuern ratsam ist, um gravierende Probleme bis hin zum Ausschuss zu verhindern. In diesem Fall greifen die Mechanismen des Prozessfähigkeitsmanagements, um frühzeitig Risikobereiche zu erkennen, die Problemursache einzukreisen und den betreffenden Prozess rechtzeitig vor einer Grenzwertüberschreitung wieder einzuregeln."
Durch eine kontinuierliche Überwachung der Prozessfähigkeit anhand der Übersichtsberichte kann also in der laufenden Produktion schnell und ohne großen Analyseaufwand sichergestellt und nachgewiesen werden, dass die Prozesse den Anforderungen genügen - gezielte Eingriffe und Optimierungsmaßnahmen in den identifizierten Bereichen sind nur dann angezeigt, wenn sich die Prozessfähigkeit verschlechtert.

Kontakt

Perceptron Inc.

47827 Halyard Drive
48170 Plymonth
MI

+1 734 414 6100
+1 734 414 4700

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