Voll im Griff
Bin-Picking-System ermöglicht Effizienzsteigerung
Für seine flexible Fertigungszelle verwendet ein japanischer Hersteller von Zahnrädern und Differentialgetrieben mit Sitz in Belgien ein speziell entwickeltes Vision-System, das einen Wechsel zwischen Bauteilmodellen ohne großen Zeitverlust ermöglicht. Eine entsprechend ausgelegte Bildverarbeitungssoftware liefert dafür die Basis.
D ie Firma Jtekt Torsen stellt Zahnräder und Differenzialgetriebe für die Automobilindustrie her. Im Rahmen der Produktion eines neuen Typs von Differentialgetrieben wurde aus bestehenden Maschinen eine flexible Fertigungszelle gebaut. Aus Überlegungen zur Wirtschaftlichkeit wurde entschieden, die Produktion mit Hilfe eines roboterbasierten Handlingsystems komplett zu automatisieren. Ein Roboter ist mit einem „Bin-Picking-System" ausgestattet und bedient die beiden Fertigungseinheiten, aus denen die flexible Fertigungszelle besteht. Die Firma Ceratec, Systemintegrator für Robotik, wurde mit der Projektrealisation beauftragt. Das Unternehmen Phaer, Anbieter von Bauteilen und Leistungen rund um 3D-Vision, wurde während der Projektplanung von Ceratec hinzugezogen, um das Vorhaben umzusetzen und zum Abschluss zu bringen.
Neuer Lösungsweg
In der Automobilindustrie wird ein Projekt für die Produktion eines neuen Bauteils typischerweise stufenweise entwickelt: Zuerst wird das Bauteil entworfen und ein Prototyp hergestellt, um anschließend ein Fertigungskonzept zu erarbeiten. Schließlich wird die Produktionsmenge nach und nach bis zum anvisierten Volumen gesteigert.
Im vorliegenden Fall geht es um vier Bauteile zum Einbau in ein Getriebe, die in einer flexiblen Fertigungszelle bearbeitet werden. Jtekt begann mit einem Produktionsverfahren, in dem die Materialbearbeitungsmaschinen manuell nachgeladen wurden. Dabei war bereits klar, dass es sich um einen vorübergehenden Zustand handeln sollte, da das Nachladen der Maschinen für die Mitarbeiter eine auf die Dauer zu eintönige Tätigkeit darstellt. Zudem ist der Zeitdruck so groß, dass der Bediener nicht alle Maschinen bedienen und gleichzeitig die Qualitätskontrolle durchführen kann. Es musste also eine Automatisierungslösung gefunden werden, die dem Fertigungsablauf angepasst ist.
Aufbau der flexiblen Fertigungszelle
En Bauteil wird in drei Schritten gefertigt, die abhängig vom Bauteiltyp insgesamt etwa ein bis 1,5 Minuten benötigen. Die Fertigung an sich erfolgt mit zwei CNC (Computerized Numerical Control)-Maschinen: mit einer Fräse für die Zahnradfertigung und einer Drehmaschine mit zwei Werkzeugen. Die zwei CNC-Maschinen wurden um einen Handling-Roboter platziert und als Ganzes von einer Sicherheitsbox umschlossen. Die Steuerungseinheit befindet sich außerhalb der Box.
Die Fertigungsschritte
Die Rohlinge liegen unsortiert in einer Metallkiste. In der Kiste befinden sich ca.3.500 Stahlrohlinge mit einem Gesamtgewicht von etwa einer Tonne. Die Kiste wird zwischen zwei Schienen gestellt und durch einen Feststeller blockiert, sodass die Kiste unter dem Bilderfassungssystem angebracht werden kann. Auf die Oberfläche der Kiste wird eine Laserlinie projiziert, die von einer Kamera erfasst wird. So kann die Oberfläche analysiert und die exakte Raumlage der Bauteile bestimmt werden. Das Bildverarbeitungssystem entscheidet daraufhin, welches Bauteil gegriffen wird und weist den Roboter entsprechend an, sodass der Roboter kollisionsfrei arbeiten kann.
Der Roboter greift das ausgewählte Werkstück und führt es zu einer Kontrolleinrichtung für die räumliche Ausrichtung. Das Werkstück wird auf ein Förderband gelegt, das als Zubringersystem der Fräse dient. Nach dieser ersten Bearbeitung wird das Bauteil wieder vom Roboter gegriffen und dem ersten Bearbeitungskopf der nächsten Maschine zugereicht. In der weiteren Bearbeitung findet dort ein automatischer Werkzeugwechsel statt.
Nach Fertigstellung des Bauteils wird es von der Drehmaschine automatisch einem Entnahmesystem zugeführt, das das Werkstück zu einer Kontrolleinrichtung führt.
All diese Schritte laufen nicht linear, sondern fein abgestimmt teilweise parallel, sodass sich die Bearbeitungszeiten der einzelnen Fertigungsstufen nicht aufsummieren, sondern teilweise überdecken.
Das Vision-System
Heutzutage sind Bildverarbeitungssysteme bereits in einen Roboter integriert und bieten Standardlösungen. Das von Phaer speziell entwickelte Vision-System ist über der Materialkiste angebracht und besteht aus einem Laserlinienprojektor und einer Kamera auf einer beweglichen Einheit. Diese ermöglicht die Projektion der Laserlinie auf die Oberfläche der Kiste und die Registrierung durch eine Kamera. Die Kamera ist mit einem Winkel von 20° so ausgerichtet, dass sie die Linie des Lasers insgesamt erfassen kann. Das Vision-System arbeitet nach dem Triangulationsprinzip. Die Scannerlinie besteht aus 1.000 Bildpunkten.
Während der Laser auf die Oberfläche ein Punkteraster projiziert, nimmt die Kamera dieses auf. Die Bildverarbeitungssoftware fügt das Raster zu einer 3D-Punktwolke zusammen, die die gescannte Oberfläche der Bauteile in der Kiste abbildet. Die Bildverarbeitungssoftware basiert auf Halcon von MVTec. Das resultierende 3D-Bild hat eine Auflösung von einem Punkt pro 2 bis 3 mm. Die Bildverarbeitungssoftware erkennt die exakte Lage der Bauteile in der Kiste im dreidimensionalen Raum. Die erkannten Bauteile werden farblich hervorgehoben, wobei die Farbe die Erreichbarkeit des Bauteils kodiert.
Um die Erreichbarkeit vorherzusagen, überprüft die Software den Schnitt eines virtuellen Zylinders an den Koordinaten eines erkannten Werkstücks mit der gemessenen 3D-Oberfläche. Dieser Zylinder stellt das Volumen des Robotergreifers dar. So wird sichergestellt, dass der Greifer niemals mit einem anderen Bauteil kollidiert. Um eine Kollision mit dem Rand der Kiste zu vermeiden, wird ähnlich verfahren.
In der Praxis verläuft die Analyse nicht immer über die ganze Oberfläche der Kiste, sondern hält an, sobald ein passender Rohling gefunden wird. Da die flexible Fertigungszelle für die Produktion aus vier Teilen konzipiert ist, besteht die entwickelte Software aus vier Modulen. Die Anzahl der Arbeitseinheiten ist nicht beschränkt, sondern kann jederzeit durch neue Modelle und andere Funktionalitäten erweitert werden.
Steigerung der Produktion
Die Produktion läuft bereits auf Volllast. Insgesamt soll eine Stückzahl von jährlich 800.000 erreicht werden. Die Automobilindustrie arbeitet nach dem Prinzip "Just in Time": Lagerhaltung ist ein „No-Go". Deshalb darf die gesamte Charge eines Bauteiltyps nicht auf einmal produziert werden. Vielmehr wird in der Praxis die Produktion der vier Typvarianten mit kleinen und mittleren Produktionseinheiten erreicht. Die Flexibilität des entwickelten Systems ermöglicht hier den entscheidenden Vorteil eines Wechsels zwischen den Bauteilmodellen ohne großen Zeitverlust.