Von Sensoren zu intelligenten Systemen: Der Einfluss von künstlicher Intelligenz
12.12.2024 - Interview mit Dr. Stefan Odermatt und Dr. Shane MacNamara, beide Senior Vice Presidents bei Sick
Künstliche Intelligenz gilt derzeit als der Technologietreiber. Richtig eingesetzt, kann sie unter anderem die Produkt- und Software-Entwicklung beschleunigen. Zwei Experten geben Einblick, welche Rolle KI bei ihnen im Unternehmen spielt: Dr. Stefan Odermatt, Senior Vice President Research & Development Integrated Automation, und Dr. Shane MacNamara, Senior Vice President Research & Development Autonomous Perception, beide bei Sick tätig.
inspect: Künstliche Intelligenz ist sprichwörtlich in aller Munde. Welche Rolle spielt diese Technologie für die Entwicklung neuer Produkte bei Sick?
Dr. Stefan Odermatt: Seit 2004 tritt Sick mit dem Claim ‚Sensor Intelligence‘ auf. Das Thema Künstliche Intelligenz ist für uns die logische Fortführung dieser Leitidee. Daher haben wir schon 2017 ein Start-up etabliert, dass sich mit der Integration von KI und Deep Learning in unsere Sensoren beschäftigt. Denn Sensoren mit KI können anspruchsvollere Aufgaben lösen, Muster viel schneller und zuverlässiger erkennen und sich besser an veränderte Bedingungen anpassen. KI ist daher aus der Entwicklung neuer Produkte nicht mehr wegzudenken.
Dr. Shane MacNamara: Gerade die Produkt- und Software-Entwicklung wird durch KI erheblich einfacher. So haben wir im letzten Jahr zum Beispiel einen ‚KI-Copiloten‘ für Software-Entwicklung eingeführt – zunächst mit 200 Mitarbeitern in sechs Ländern. Mittlerweile ist das Tool weltweit bei Sick verfügbar. Es unterstützt unsere Software-Ingenieure bei der Fehlersuche, bei der Generierung von Tests und bei der Erklärung von Software-Codes. KI vereinfacht diese Prozesse enorm. Die Tools verbessern sich exponentiell und werden uns zukünftig noch viel besser unterstützen.
inspect: Bei der Datenauswertung kommt KI zunehmend zum Einsatz – wenn auch nach wie vor auf niedrigem Niveau. Wo und mit welcher Funktion kommt KI in Ihren Sensoren vor? Und welches Potenzial sehen Sie in näherer Zukunft?
MacNamara: Sick war vor über zwei Jahren die erste Firma mit einem KI-basierten ‚On Device Learning‘-Angebot – mit einem Gerät, das selbstständig gelernt hat. Es konnte kleine Aufgaben ohne Edge-Device- oder Cloud-Anbindung lösen. Seitdem haben KI und mit ihr Deep Learning aufgrund der steigenden Verfügbarkeit von Daten und Rechenleistung zunehmend an Bedeutung gewonnen. In unseren Sensoren nutzen wir KI, um schneller die Kundenperspektive einzunehmen und komplizierte Entscheidungsprozesse, beispielsweise in der Qualitätskontrolle, zu übernehmen und es Unternehmen zu ermöglichen, immer mehr Prozesse zu automatisieren und zu digitalisieren. Da die Herausforderungen unserer Kunden in den nächsten Jahren sicherlich nicht weniger werden, wird auch bei Sick das KI-basierte Lösungsspektrum weiter wachsen.
Odermatt: Um Ihre Frage nach dem Potenzial zu beantworten: Der Zugang zu KI-Lösungen ist in den letzten zwei, drei Jahren einfacher geworden – sowohl für Integratoren beziehungsweise Anlagenbauer als auch für Endkunden, die die Lösungen anwenden. Sie alle profitieren davon, dass die Einfachheit der Bedienung unserer KI-Oberflächen die Hemmschwelle für Laien und Bildverarbeitungsneulinge erheblich senkt, eigene Lösungen selbstständig zu erstellen. Dank KI können unsere Kunden Aufgaben selbst automatisieren, die in der Vergangenheit schwer umzusetzen waren. Gute Beispiele dafür sind Qualitäts- und Montagekontrollen mit reflektierenden Teilen, die Prüfung von Lötstellen oder das Sortieren von Lebensmitteln. KI ist also heute im Prinzip jedem technologisch Interessierten zugänglich. Die Entwicklung des KI-Potenzials kennt daher nur eine Richtung: nach oben.
inspect: Betrachten wir eine bestehende, regelbasierte Bildverarbeitungsanwendung: In welchen Bereichen kann künstliche Intelligenz dem Anwender nützen?
Odermatt: Lassen Sie mich hierfür zwei Beispiele nennen, die das breite Nutzenspektrum exemplarisch andeuten. Mit dem Vision-Sensor Inspector 83x hat Sick eine Lösung entwickelt, um mit Hilfe von KI die Qualitätskontrolle einfacher und effizienter zu gestalten. Ob zur Prüfung von Merkmalen, zur Fehlererkennung oder zur Sortierung – der Sensor wird nicht mehr programmiert, sondern trainiert und lernt eigenständig anhand von Beispielen. Die Bedienung des Sensors und die Deep-Learning-Abläufe sind so gestaltet, dass auch Bildverarbeitungs-Laien damit klarkommen. Aber nicht nur Sensoren, auch komplexe Sensorsysteme profitieren von KI. Ein Beispiel sind Thermoportale für die Erkennung brandgefährdeter Fahrzeuge vor Tunnelanlagen. Wurden hierfür bislang klassische Bildverarbeitungsalgorithmen genutzt, arbeiten diese Systeme seit wenigen Jahren mit KI auf der Basis der Statistikdaten aus zehn Jahren Betrieb dieser Thermoportale. Ziel war es, die Erkennungssicherheit zu erhöhen und die Zahl von Fehl- und Vorsichtsalarmen zu senken. Und damit kostspielige Maßnahmen wie Tunnelsperrungen oder das An- und Abrücken der Feuerwehr zu vermeiden. Und was soll ich sagen: Die KI-basierte Methode meisterte ihre Aufgabe bereits nach kürzester Zeit signifikant besser als der klassische Algorithmus, obwohl der über zehn Jahre stetig verbessert wurde. Wir sprechen hier von einem Faktor 10 bis 20, um den die Fehlalarme reduziert werden konnten. KI erlaubt es uns also, unsere Sicherheit in einer nie dagewesenen Qualität zu erhöhen.
inspect: Was, denken Sie, sind die größten Hindernisse für den großflächigen Einsatz von KI in der Industrie?
MacNamara: In der Tat ist die Einführung und damit der Einsatz von KI vielerorts mit großen Hürden verbunden – auch wenn Vorteile wie Effizienz- und Produktivitätsgewinne oder die Reduktion von Fehlern und Kosten klar beziffert werden können. Der Digitalverband Bitcom fasst nach einer Befragung unter mehr als 600 Unternehmen aus allen Branchen in Deutschland die wesentliche Gründe zusammen: Das sind fehlende personelle und finanzielle Ressourcen mit 62 Prozent, eine Verunsicherung durch rechtliche Hürden mit 49 Prozent, der Mangel an technischem Knowhow mit 48 Prozent sowie fehlende Zeit mit 46 Prozent. Gleichzeitig beschäftigt sich in gerade einmal 14 Prozent der Unternehmen die Geschäftsleitungsebene mit KI – was die zuvor genannten Hinderungsgründe mit erklären dürfte. Je stärker die Digitalisierung zur Chefsache wird, desto geringer sollten daher die Hindernisse zur Implementierung von KI werden. An Daten jedenfalls dürfte kein Mangel herrschen.
inspect: Mit welchen KI-Produkten von Sick können die inspect-Leserinnen und Leser noch in diesem Jahr rechnen?
Odermatt: Wir haben im Jahr 2024 einen besonderen Fokus auf digitale und KI-gestützte Sensorlösungen gelegt und unser Portfolio sukzessive ergänzt. Dabei hatten wir stets die branchenspezifischen Anforderungen unserer Kundinnen und Kunden im Blick und haben damit der enormen Bedeutung digitaler Lösungen Rechnung getragen. Blicken wir auf den Rest des Jahres, gibt es noch ein paar Überraschungen im Bereich Systemlösungen mit Applikationsfokus. Ohne dem vorwegzugreifen, wird auch über dieses Jahr hinaus das Thema Software als integraler Bestandteil unserer Sensorlösungen eine große Rolle spielen.
Autor
David Löh, Chefredakteur der inspect