Künstliche Intelligenz: Keine Zeit mehr für Hype
08.07.2024 - KI in der Industrie erfolgreich einsetzen
Wenn von einem „KI-Hype“ die Rede ist, muss man sich wirklich fragen, welche Art von KI gemeint ist – generative KI (Gen AI) mit ihren heutigen Möglichkeiten ist neu, während es andere Arten schon seit Jahrzehnten gibt. Einige Arten von KI sind bereits bekannt, während andere obskur oder gar nicht entwickelt sind – beispielsweise die künstliche allgemeine Intelligenz. Das sind KI-Systeme, die abstrakt denken könnten, einen gesunden Menschenverstand haben, und dabei über die Fähigkeiten von uns Menschen hinausgehen. Wobei hier, wie so oft bei dem Thema KI, die Definitionen variieren.
Vor einem Jahrzehnt waren bestimmte Arten von künstlicher Intelligenz (KI) eine seltsame Technologie, mit der Forscher und Unternehmen Spiele gegen Menschen spielten, gewannen und dabei einige wichtige Fortschritte erzielten. Mit den neuen KI-Technologien wie ChatGPT, GitHub Copilot für Entwickler, Sora und Midjourney ist KI heute in aller Munde und Unternehmen nutzen diese neuen Möglichkeiten. Aber es gibt große Unterschiede, wenn es um die Nutzung von KI durch Verbraucher und Unternehmen geht. Die Budgets, die Sicherheit, die Anwendungsfälle, die Kapitalrendite und das benötigte Fachwissen erreichen im Geschäftsleben neue Dimensionen und lassen wenig Raum oder Zeit, um den Hype zu bewundern. Messbare Produktivität, Prozesseffizienz, Personaloptimierung, Kosteneinsparungen und Umsatzwachstum stehen ganz oben auf der Agenda.
KI: Große Erwartungen bei geringem Fachwissen
Laut einer neuen BCG-Studie zählen KI und Gen-KI zu den drei wichtigsten Technologieprioritäten für 2024. Dennoch bewerten 66 Prozent der Führungskräfte ihren Fortschritt in Bezug auf KI und Gen-KI als mittelmäßig oder sind sogar unzufrieden – und nur 6 Prozent haben damit begonnen, ihr Wissen sinnvoll zu erweitern. Dennoch erwarten 54 Prozent der Führungskräfte, dass KI schon in diesem Jahr zu Kosteneinsparungen führen wird. Etwa die Hälfte von ihnen erwartet Kosteneinsparungen von mehr als 10 Prozent, vor allem durch Produktivitätssteigerungen in den Bereichen Betrieb, Kundenservice und IT.
Wir können auch tiefer in bestimmte Branchen einsteigen. So setzen laut einem Bericht von Zebra 43 Prozent der in Deutschland und 56 Prozent der in Großbritannien befragten Führungskräfte in der Automobilbranche derzeit eine Form von KI wie Deep Learning in ihren Bildverarbeitungsprojekten ein. Allerdings geben 34 Prozent in Deutschland und 24 Prozent in Großbritannien an, dass sie in ihren Bildverarbeitungsprojekten keine Form von KI wie Deep Learning einsetzen und die Relevanz nicht sehen. Das Bild ist uneinheitlich, und es gibt andere, die KI einsetzen, aber mehr und bessere Leistungen wünschen.
Der Nutzen von KI variiert stark
Die Fortschritte in der maschinellen Bildverarbeitung sind ein Beispiel dafür, dass Hersteller, wie auch andere Branchen, einen unterschiedlichen Reifegrad haben, wenn es darum geht, von KI zu profitieren. Moderne industrielle Bildverarbeitung ermöglicht ein neues Maß an Analyse, Genauigkeit, Konformität und Qualität in Produktionsprozessen und gibt Ingenieuren neue Werkzeuge an die Hand, um effizienter zu arbeiten – die Art von Dingen, die den Hype durchbrechen und den wahren Wert der Technologie zeigen.
An einem Produktionsstandort in Brasilien entwickelt die Bosch-Gruppe zum Beispiel Lösungen für Einspritzsysteme von Dieselmotoren für die Automobilindustrie. Die Einspritzdüsen sind ein wichtiges Bauteil, das den Dieselkraftstoff in den Brennraum des Motors befördert. Bosch benötigte eine Bildverarbeitungslösung, um die Lese- und Prüfprozesse weiter zu automatisieren, die Rückverfolgbarkeit der Einspritzdüsen zu verbessern und die Anzahl der bearbeiteten Teile zu reduzieren, die manuell geprüft werden müssen.
Mit seinem Bildverarbeitungssystem erreicht das Werk ein Produktionsvolumen von 7.000 Teilen pro Tag. Der Anteil an fehlerhaftem Ausschuss konnte auf weniger als 5 Prozent gesenkt werden, was eine erhebliche Verbesserung war. Das System läuft auf einer Bildverarbeitungs-Software, die das gesamte System steuert und es dem Team ermöglicht, Kosten und Einrichtungszeit zu reduzieren und die Installation zu vereinfachen.
KI braucht Training – deren Nutzer aber auch
Deep Learning ist durch neuronale Netze ein leistungsstarkes, fortschrittliches KI-Tool, das das menschliche Gehirn nachahmt – insbesondere neuronale Faltungsnetze im Fall der industriellen Bildverarbeitung, deren Konnektivität vom visuellen Kortex des Gehirns, der Bilder verarbeitet, inspiriert ist. Aber es ist keine Magie.
Manchmal erwartet ein Ingenieursteam, dass die KI von Beginn an einwandfrei funktioniert. Es ist wichtig, die Beteiligten über die Fähigkeiten und Grenzen neuronaler Netze aufzuklären. Diese können bemerkenswerte Ergebnisse erzielen, aber sie müssen sachkundig eingesetzt werden. Realistische Erwartungen sollten sich auf die Bereiche stützen, in denen neuronale Netze (im Vergleich zu menschlicher Leistung und herkömmlicher regelbasierter maschineller Bildverarbeitung) überragende Leistungen erbringen, zum Beispiel beim Erkennen von Oberflächendefekten, dem Zählen von Objekten, dem Lesen schwieriger Zeichen oder dem Erkennen unerwarteter Abweichungen von zuvor angelernten Objekten (Anomalien).
Die Auswahl geeigneter Bewertungsmaßstäbe ist für die genaue Beurteilung der Modellleistung entscheidend. Die grundlegendste Metrik ist die Genauigkeit (Anzahl der korrekten Klassifizierungen geteilt durch die Anzahl aller Klassifizierungen). Aber sie eignet sich möglicherweise nicht für unausgewogene Datensätze. Stattdessen werden Metriken wie der F1-Score für die Klassifizierung oder die durchschnittliche Präzision (Area Under The Precision-Recall Curve, AUPRC) für Erkennungsaufgaben verwendet. Metriken wie „Area under the Receiver Operating Characteristic“ (AUROC), die sich auf echte Negative stützen, sollten vermieden werden, da die von ihnen ermittelten Zahlen irreführend (zu optimistisch) sein können. Insbesondere, wenn die Zahl der echten Negative sehr hoch ist.
Es gibt auch viele Datenprobleme, die gelöst werden müssen, damit ein Unternehmen von den Vorteilen der KI profitieren kann. Die Vermischung von Trainings- und Testdatensätzen, unzureichende und unausgewogene Größen, mehrdeutige und inkonsistente Datenkommentare sowie Umgebungsfaktoren müssen berücksichtigt werden, um sicherzustellen, dass Deep-Learning-Lösungen richtig funktionieren.
KI-Projekte brauchen einen Plan
Nach der Verabschiedung des KI-Gesetzes der EU brauchen Unternehmen auch einen Leitfaden, um den Hype zu durchbrechen und sich einen KI-gestützten Mehrwert für ihre Geschäfte zu sichern. Das EU-KI-Gesetz legt einen gemeinsamen Rahmen für die Nutzung und Bereitstellung von KI-Systemen in der EU fest und enthält eine Klassifizierung für KI-Systeme mit unterschiedlichen Anforderungen und Verpflichtungen, die auf einem risikobasierten Ansatz fußen.
Der Rechtsakt ist ein neuer Katalysator für die Hersteller, um in die Partnerschaften und Technologien zu investieren, die für die Verwirklichung digitaler Fabriken und intelligenter Fertigungsverfahren erforderlich sind. Automatisierte und autonome Arbeitsabläufe, besser unterstützte Mitarbeiter und prädiktive sowie präskriptive Analysen lassen sich mit KI und den Bergen wertvoller Fertigungsdaten nutzen.
Welcher Fertigungsprozess muss automatisiert werden und würde von KI profitieren? Welche Art von KI wäre am besten geeignet? Wie wird die Einhaltung von Gesetzen sichergestellt und aufgezeichnet, und welche Mitarbeiter und Partner braucht man, um dies zu erreichen? Dies sind die Fragen, die der Hype nicht beantwortet, die aber beantwortet werden müssen.
Echte Fortschritte sind nur ohne den Hype möglich
Im Moment geht es nicht so sehr darum, dass KI einfach nur Arbeitsplätze schafft oder bedroht – auch wenn viele Schlagzeilen dies vermuten lassen. Wie beim Auto, dem Telefon und dem Internet werden durch das Wachstum der KI zahlreiche neue Arbeitsplätze und Branchen entstehen. Was man jetzt sieht, sind Hersteller, die ihre Ingenieure, Programmierer und Datenwissenschaftler mit neuen und besseren KI-gestützten Werkzeugen ausstatten, um das zu tun, was sie bisher taten – nur schneller und effizienter. Zusätzlich geben sie bestimmte Aufgaben an KI-gesteuerte Automatisierung ab.
Wie andere Branchen auch, stehen Hersteller vor der Herausforderung, Arbeitskräfte einzustellen, zu schulen und zu halten. In diesen Fällen wenden sich die Unternehmen der Automatisierung zu, um Arbeitskräftelücken zu schließen, Arbeitnehmer schneller zu schulen und die derzeitige Belegschaft zu unterstützen. Arbeitnehmer mit KI-Fähigkeiten werden sich von anderen abheben, da sie über das Wissen und die Erfahrung verfügen, die die Hersteller in ihren Betrieben benötigen.
Die Unternehmen werden auch die Demokratisierung von KI und maschinellem Lernen zu einer strategischen Priorität machen. Unabhängig davon, ob es sich um einen Ingenieur, einen Datenwissenschaftler oder einen Entwickler handelt, werden die Mitarbeiter weitergebildet und erhalten Lernressourcen. Außerdem bekommen sie Unterstützung durch einfach zu verwendende KI-Tools, die einige Aufgaben übernehmen können. Manche Tools, wie Deep Learning OCR, können mit wenig oder gar keinem Code auskommen. Das heißt, sie sind sofort einsatzbereit und erfordern keine spezielle Schulung. Andere Tools sind anspruchsvoller und funktionieren eher wie vorgefertigte Umgebungen für Programmierer und Datenwissenschaftler, die mit der Plattform, den Tools und den bereitgestellten Bibliotheken Lösungen erstellen.
Letztendlich wird dieser Ansatz eher zum Standard als zu einem Unterscheidungsmerkmal im Kampf um Talente, die Qualifizierung der Arbeitskräfte und die Optimierung der Frontlinie durch neue Arbeitsweisen. Diejenigen, die neue KI-Tools einführen und nutzen können, ohne heute auf den Hype hereinzufallen, werden sich und ihren Kunden morgen einen Vorteil verschaffen.
Autor
Donato Montanari, Vice President and General Manager, Machine Vision bei Zebra Technologies